Der
Minotaurus mit dem Sturzhelm
Im Jahre 1998 schuf der Berliner
Künstler Jörn Gerstenberg im Treppenhaus des
Schlosses seine Wandzeichnung "Der Minotaurus mit
dem Sturzhelm", eine geheime Signatur der Menschen
im Labyrinth des Lebens. Er schreibt:
Die Torsi in der modernen
Bilhauerei entstanden, weil man die antiken, zerstörten
Skulpturen fand und aus dem Bruchstückhaften ein
eigenes Genre ableitete. Die Verbindung einander widersprechender
Körperteile von Menschen und Tieren zu Fabelwesen
beflügelte schon immer die Phantasie. Zentauren,
Sirenen, Sphinx und Minotaurus wurden immer wieder abgebildet.
Ich sah wissenschaftliche Darstellungen von menschlichen
Körpern, bei denen aus Gründen der Anschaulichkeit
Gliedmaßen und Körperteile weggelassen wurden.
Ich empfand es als Aufgabe, die bildnerisch zerstückelten
Körper wieder zu ergänzen. Ich ersetzte die
fehlenden Gliedmaßen der Torsi durch technoide oder
organhafte, wie symbolische Formen.
In Thomas Pynchons Roman
"V" kopuliert eine Autofahrerin mit ihrem geliebten
Sportwagen. Ich fragte mich, was aus dieser Verbindung
entstehen könnte. Einneuer Minotaurus?
In einer Szene einer Erzählung
von Jorge Luis Borges sucht der Protagonist mit dem Vergrößerungsglas
einen Stich im Stile Piranesis, ein Labyrinth darstellend,
ab, um den Minotaurus zu finden. Er entdeckt ihn im Schatten
einer Säule lauernd. Wie sieht er aus im heutigen
Labyrinth?
Ist es der Maschinenmensch,
den Paul Virilio schildert: "In Wirklichkeit ist
der Körper, der sich in einen 'stählernen Alkoven'
einschmiegt, nicht der Körper eines kriegerischen
Dandys, der im Kriege auf der Suche nach besonderen Erlebnissen
ist, sondern der zweifach unfähig gewordene Körper
des Soldaten-Proletariers; schon immer seines Willens
beraubt, hat er von nun an das Bedürfnis, durch eine
vehikuläre Prothese körperlich unterstützt
zu werden, um in der Lage zu sein, seine historische Aufgabe
zu erfüllen, nämlich den Sturmangriff".
In der Romanverfilmung "Crash" von David Cronenberg
sah man auf der Kinoleinwand die Maschinenmenschen als
gepanzerte Freaks des Kampfes auf den Autobahnen.
Der Minotaurus ist nicht
mehr allein im Labyrinth. Dort arbeitet ein Team von Spezialisten
mit eigenem Kommunikationssystem.
Meine Zeichnungen neigen
zur Stilisierung. Wann ist ein Körper als Zeichen
noch erkennbar? Wann berührt des den Betrachter noch,
wenn Verformungen formelhaft dargestellt werden? Die Figuren
erhalten die Möglichkeit einer Verkettung, um bei
einer Raumgestaltung die Wände netzartig überziehen
zu können. Deshalb scheint mir die Serialität
der gezeichneten Figuren nahezuliegen. Ich verwende Filz-Stifte,
die auch Graffiti-Zeichner benutzen, um über einen
unempfindlichen, kalten Strich zu verfügen. Meine
Figuren können nicht malerisch gestaltet werden.
Jede derart entstehende Figur bildet einen Buchstaben
eines geheimen Alphabetes, das einen Text bildet, dessen
Inhalt ansatzweise deutlich werden kann. Details entstehen
aus der jeweiligen konkreten Situation des Schaffensprozesses.
Die bezeichneten Wände bilden einen begehbaren Text
mit einer Labyrinthstruktur, für die Vorbilder in
den verzweigten Kompositionen bestimmter Gedichtformen
bestehen. Es heißt, dass Bilder Gedichtformen sein
können. Aus Texten werden dann Bilder und umgekehrt.